© Michaela Fisnar, 2024
Zeit und Lust
"Das schreibt man getrennt und mit einem grossen H: zu Hause!"
"Zusammen oder auseinander – beides ist richtig."
"Ich bin die Verlegerin. Was gutes Deutsch ist, entscheide ich!"
"Ja, Romulus."
"Was?"
"Nichts." Gewisse Leute wollen einfach immer Recht haben. Ich mag mich nicht streiten,
mich beschäftigt etwas ganz anderes.
Als ich die Büroräume des Verlags verlasse, klingelt mein Handy.
"Hallo, Papa."
"Deine Mutter ist im Malkurs, da dachte ich, ich ruf dich an. Störe ich?"
"Nein, du störst nicht. Wollen wir uns in der Konditorei treffen?" Ich weiss, dass er auf
diesen Vorschlag gehofft hat.
"Aha, das ist nett, aber ich weiss nicht, hast du denn Zeit? Du hast doch sicher viel zu tun."
"Nein, Papa, die Frage war, ob du Lust hast, dich mit mir zum Kaffee zu treffen."
"Sicher, Lust hab ich schon. Aber nur, wenn du Zeit hast."
"Ich habe Zeit, sonst hätt ich dich ja nicht gefragt. In zehn Minuten in der Konditorei, ok?"
"Ja gut."
Sobald ich das Handy ausgeschaltet habe, schwenken meine Gedanken – zum x-ten Mal –
zurück zu der Sache von gestern ...
Ich ging zum Coiffeur (Friseur! höre ich die Verlegerin schreien; ich hab schon Verfolgungswahn),
ganz normal, zum Waschen-Schneiden-Föhnen, also wirklich nichts Besonderes. Nur: da war
ein Neuer, Pierre. Er vertrete den Geschäftsinhaber, der in Urlaub sei.
"Kein Problem", sagte ich. Mir ist es egal, wer mir die Haare schneidet.
Pierre war sehr freundlich, das waren sie in diesem Salon immer. Ohrringe abnehmen,
hinsetzen, Waschbecken an den Nacken, gut so? Ja. Wassertemperatur angenehm? Ja, bestens.
Er habe eine Weile in Madrid gearbeitet, erklärte Pierre, während er das Shampoo spülte. Dort sei
nach dem Waschen eine Kopfmassage üblich, ob ich das möchte. Ja, gern, eine Massage ist immer gut.
Ich bin im Café angekommen, mein Vater sitzt schon an seinem Lieblingsplatz und studiert die ihm
seit Jahren vertraute Karte.
"Hallo", sage ich, und er steht auf, um mich zu begrüssen. Dann widmet er sich wieder der Lektüre. I
ch sitze gefühlsmässig immer noch im Coiffeursalon.
Im Spiegel sah ich, wie Pierre sich etwas Öl auf die Handfläche goss und die Hände aneinander rieb.
Dann stellte er sich hinter mich, legte die Fingerkuppen in meinen Nacken und liess seine Finger mit
leichtem Druck langsame über meine Kopfhaut gleiten. Ich schloss unwillkürlich die Augen. Er fasste
nun fester zu, bewegte seine Fingerspitzen mit kreisenden Bewegungen, erst seitwärts, dann hinter
den Ohren hinauf und hinab und wieder zur Kopfmitte zurück. Ich atmete tief ein und entspannte
beim Ausatmen die Schultern, den Bauch, die Beine und Füsse. Ich spürte die Wärme und Kraft seiner
Hände, seine Energie, seine Konzentration, seine Hingabe; er hatte eine Art, mir in die Haare zu fassen …
Ich spürte ein Kribbeln im ganzen Körper, ich seufzte ganz leise und versank in meinen Empfindungen.
Und ich wünschte mir... Ich stellte mir vor, wie er seine Finger weiter gleiten liess, meinen Nacken
entlang, über das Schlüsselbein und weiter –
Die Serviertochter steht am Tisch. "Was darfs sein?"
Mein Vater starrt immer noch auf die Karte.
"Papa, was willst du?"
"Na ja, ich weiss nicht … Der Schokoladekuchen mit Himbeeren sieht gut aus … die Zitronentorte
aber auch… Vielleicht sollte ich lieber die Crêpes mit Zimt nehmen… Was nimmst du denn?" Vater kann
sich im Restaurant nie entscheiden. Als hinge die Zukunft der Welt von seiner Wahl ab.
Ich blicke zur Serviertochter empor. "Entschuldigen Sie, wir sind noch nicht soweit." Sie nickt und geht
zum nächsten Tisch. Vater schaut ihr nach. "Hätten wir nicht schon mal Kaffee bestellen sollen?"
"Sie kommt ja gleich wieder. "Vater fragt nochmals: "Also, was nimmst du?"
"Nichts, nur Kaffee."
"Ach, dann nehm ich auch nichts, nur Kaffee."
"Wieso denn? Du wolltest doch ein Stück Torte."
"Schon, aber wenn du nichts isst…"
"Das ist doch egal. Wenn du etwas Süsses willst, dann bestell etwas." Vater schaut erneut auf die Karte.
"Ja, also vielleicht… Wieso nimmst du nicht auch etwas?"
Ich liebe meinen Vater. Aber manchmal ist es zum Wahnsinnigwerden.
Die Serviertochter eilt wieder herbei."Haben Sie etwas ausgewählt?"
Ich antworte: "Ja, zwei Kaffee bitte und ein Stück Zitronentorte."
"Oder vielleicht doch lieber die Schokoladentorte?", äussert sich mein Vater. Ich lächle die Serviertochter an:
"Die Zitronentorte bitte." Sie schreibts auf und geht. Vater legt die Karte beiseite. "Zitronentorte, warum nicht.
Ich mag Zitronentorte."
"Ich weiss," sage ich.
Er beginnt, die Gegenstände auf dem Tisch minutiös zu ordnen und gibt sich der Aufgabe weltvergessen hin.
Ich beobachte. Als er alles fertig arrangiert hat, blickt er zufrieden auf.
Ich kommentiere: "Sehr hübsch."
Jetzt ist er doch ein wenig verlegen und räuspert sich.
Zur Ablenkung sage ich: "Ich habe gestern mit Alice zu Mittag gegessen."
"Hm... dann hat sie es dir wohl gesagt."
"Ja, hat sie."
Vater schüttelt den Kopf. "Wir müssen es wohl akzeptieren, aber ich verstehe es überhaupt nicht."
"Wirklich?"
"Sie haben doch so eine schöne Beziehung."
"Sie geben den Anschein, eine schöne Beziehung zu haben."
"Sie haben sich nie gestritten", insistiert mein Vater.
"Sie haben sich nie in deiner Gegenwart gestritten."
Er schüttelt wieder ungläubig den Kopf. Die Serviertochter bringt Kaffee und Torte. Mein Vater macht sich
sofort fachkundig ans Werk: eine halbe Portion Zucker in den Kaffee, umrühren, Löffel sorgfältig in den Mund
nehmen, dann auf die Untertasse legen, die Serviette links neben den Teller platzieren, dann sachte mit
der Gabel das erste Stück abschneiden, damit die Torte nicht umkippt.
Ich führe meinen Gedanken zu Ende: "Ich glaube, es wird ihr ohne ihn besser gehen. Es ist kein schlechter
Mensch, aber soooo von sich selbst überzeugt. Er erdrückt sie."
"M-hm," sagt mein Vater. Er ist bereits so in Kaffee und Kuchen vertieft, dass ihn nichts mehr aus der Ruhe
bringen kann.
Während er isst, gebe ich mich im Geist wieder meiner Erinnerung hin.
Das Summen des Föhns, die heisse Luft, Pierres Hüfte an meiner Schulter, alles wirkte plötzlich surreal.
"So… " Er hielt den Spiegel hinter meinem Kopf hoch. Ich nickte, und er sagte: "Ohrringe nicht vergessen."
Das Handy in meiner Handtasche klingelte, ich fühlte zwischen den Gegenständen herum und stellte es ab.
Pierre lächelte verständnisvoll. Wir waren die letzten im Salon. Er stand an der Kasse und berührte den
Bildschirm mit dem Finger.
"Wir hatten Waschen, Schneiden …"
"Massage."
"Ist inbegriffen."
"Oh, … Das war wirklich sehr angenehm, sehr entspannend."
"Gut. Das sollte es auch sein. Ich bin froh, dass es Ihnen gefallen hat."
"Von mir aus hätte es endlos weitergehen können."
"Von mir aus auch."
"Wie bitte?"
"Nichts." Pierre war sichtlich verlegen. "Entschuldigen Sie."
Wir starrten die Rechnung vor uns an. Ich legte ihm ein paar Scheine hin und wir sagten beide gleichzeitig "Danke".
Wir gingen zur Tür, er legte die Hand auf die Klinke und hielt inne. Ich blickte ihn fragend und gespannt an.
Er atmete tief ein und fragte dann: "Hätten Sie wohl Lust auf ein Glas Wein?"
Ich musste ganz schnell überlegen. Er war mindestens zehn Jahre jünger als ich, und ich war irgendwie
nicht ganz bei Sinnen. Vielleicht lieber ein andermal.
"Em… warum nicht."
Das Zuhausesein und Arbeiten lief mir ja nicht davon.
Er schloss die Tür ab und führte mich durch den Salon hindurch zum Hinterausgang und durch eine Nebentür
hinauf in die Wohnung, ins Wohnzimmer und hinaus auf eine Terrasse. Es war noch hell, doch der Mond liess
sich bereits über den Dächern blicken. Ich fragte mich, ob ich träumte.
Pierre brachte eine Flasche Wein und zwei Gläser und wir setzten uns auf eine Bank und blickten auf den Fluss,
der zwischen zwei Hausdächern und hinter den Uferbäumen zu sehen war. Wir stiessen an und Pierre sagte:
"Ich tu sowas normalerweise nicht …"
"Das ist schwer zu glauben – aber es spielt keine Rolle."
"Nein wirklich –"
"Es spielt keine Rolle", wiederholte ich und fragte mich, ob ich es mir nur einbildete oder ob die Luft um uns
herum elektrisch geladen war.
Vater isst friedlich und genussvoll vor sich hin. Er hat mit viel Übung und Disziplin eine Methode entwickelt,
die es ihm erlaubt, die Kuchenbissen und Kaffeeschlucke so zu dosieren, dass es am Schluss aufgeht
und er mit beidem gleichzeitig fertig ist. Er ist mitten in seiner Arbeit, und ich lasse ihn in Ruhe.
Wir sassen also auf den weichen Kissen auf dieser Bank auf der Terrasse und es war so ein Moment,
der ewig dauerte, oder von dem man sich wünscht, er möge ewig dauern, weil man ganz entrückt ist
und zudem unsicher, ob man sich den Zauber vielleicht doch nur einbildet.
Irgendwann blickte ich ihn dann an und sah, dass auch er unsicher war. Er wirkte etwas hilflos, als er fragte:
"Wir könnten etwas essen gehen – haben Sie Hunger?"
Ich sagte unwillkürlich: "Ich kann jetzt nicht an Essen denken."
Das war der Augenblick, der darüber entschied, wie der Abend verlaufen würde. Hätte er geantwortet
"Warum?", wäre der Schritt zum Geplauder getan und die Magie hätte sich verflüchtigt. Doch er sagte
"Ich auch nicht", und mit einem Mal waren alle Zweifel verflogen. Ich drehte mich ein wenig zu ihm hin,
und er lehnte sich fast gleichzeitig zu mir herüber …
Es wäre absurd, die nächste Stunde beschreiben zu wollen, denn ich wüsste gar nicht wie. Wir sprachen
nicht mehr. Im Schlafzimmer hingen dunkelblaue Vorhänge, die bis auf den Parkettboden hinab reichten,
das grosse Bett stand in der Mitte des Zimmers, das hellblaue Laken duftete frisch und sauber ...
An andere Einzelheiten kann ich mich nicht erinnern, denn meine Sinne waren völlig eingenommen und
ich driftete ab in eine Sphäre voller sinnlicher Empfindungen.
Richtig betrachtete ich ihn eigentlich erst, als wir uns wieder anzogen. Er war kaum grösser als ich,
kein athletisch gebauter Hollywood-Star, nicht das, was man sexy nennen würde. Aber der Duft
seines Körpers… oh … mir wird wieder ganz heiss… Ich denke an seine Wärme, seinen Atem …
und starre ins Leere.
Vater hat soeben mit Gabel und Teelöffel den letzten Krümel vom Teller in den Mund manövriert und
sagt begeistert: "Das war sehr gut."
"Holst du jetzt Mama ab?"
"Ja, in einer Viertelstunde, wir gehen dann gleich nachhause."
"Zusammen oder getrennt?"
Er blickt mich etwas verdutzt über den Brillenrand an. "Zusammen natürlich."
Na bitte.
Mein Vater steigt in den Bus, und ich gehe zu Fuss durch die Altstadt. Ich schwebe, ich will nicht nach Hause,
ich habe keine Lust auf Realität. Ich will wieder dahin zurück, wo ich gestern Abend war. Wieso müssen die
schönen Momente immer so vergänglich sein? Noch kann ich das Gefühl wieder aufleben lassen, kann es
im ganzen Körper spüren, doch es ist nur noch eine Erinnerung; bald wird sie zu schwinden beginnen,
blasser werden, und schliesslich jener leeren Sehnsucht weichen, die so selten gestillt werden kann.
* * * * *